Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Transnationale Listen, Spitzenkandidatenprinzip, Direktwahlakt – das klingt alles sehr technisch. Worum geht es hier also, und worum geht es in dieser Stellungnahme der Ampel?
Das Europäische Parlament vertritt die Bürgerinnen und Bürger der EU ganz unmittelbar. Anders als die Kommission oder der Rat wird es alle fünf Jahre direkt gewählt. Dabei kreuzen wir eine bestimmte Parteiliste auf dem Stimmzettel an. Das Problem? Obwohl es sich um eine Europawahl handelt, sind diese Wahllisten rein national. Die Wähler/-innen lernen dadurch auch in den Medien meist nur die Kandidierenden aus ihren eigenen Ländern kennen. Auch Wahlkampfdebatten werden dadurch fast immer aus einer nationalen Logik und Perspektive heraus geführt statt aus einem europäischen Blickwinkel.
Wird sich das durch Änderungen am Wahlrecht auf einen Schlag ändern? Sicher nicht. Im Wahlkampfstil und in der Schwerpunktsetzung sind wir alle als Parteien und Politiker/-innen gefragt, gesamteuropäische Antworten in den Mittelpunkt zu rücken. Trotzdem ist klar: Die Einführung einer Zweitstimme für transnationale Listen, auf denen Kandidierende aus der ganzen EU zur Wahl stehen, wird den Charakter von Europawahlen langfristig verändern, insbesondere wenn die jeweiligen Spitzenkandidatinnen und -kandidaten automatisch für das Amt des Kommissionspräsidenten oder der Kommissionspräsidentin antreten und weitere Spitzenpositionen auch über transnationale Listen legitimiert werden. Transnationale Listen sorgen für eine bessere Sichtbarkeit der europäischen Parteien und stärken die Lebendigkeit der europäischen Demokratie. Europawahlen würden endlich europäischer werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)
Mit diesem Kernanliegen der Ampelkoalition greifen wir zugleich auch Forderungen aus der Zukunftskonferenz auf, in der sich die Bürger/-innen nämlich explizit für die Einführung transnationaler Listen ausgesprochen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwei Drittel der Bürger/-innen wünschen sich eine aktive deutsche Europapolitik, so eine jüngste Studie; das ist wirklich ein deutliches Signal. Die Menschen wollen, dass wir gestalten, mitreden, dass wir Vorschläge für die nötigen Reformen machen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Natürlich müssen wir dabei Rücksicht nehmen auf die Interessen anderer, kleinerer, mittlerer, östlicher Mitgliedstaaten und diese Debatten gemeinsam führen; das ist gar keine Frage. Aber wenn wir als Deutschland im Wissen um schwierige Mehrheitsverhältnisse in der EU zaghaft werden, Angst vor jeglichen Vertiefungs- oder Reformschritten haben, es gar nicht erst versuchen, dann werden wir unserer Verantwortung nicht gerecht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Europa braucht nämlich beides: Pragmatismus und Interessensausgleich auf der einen Seite, aber eben auch ein Bild davon, wo es hingehen kann, einen politischen Anspruch, wie wir die EU weiterentwickeln wollen. Und es braucht Menschen in Regierungen und Parlamenten, die dafür mit Leidenschaft kämpfen. Deshalb: Lassen Sie uns auch als Deutscher Bundestag häufiger über grundlegende europapolitische Fragen diskutieren und mit Stellungnahmen aktiv Bewegung in Verhandlungen auf EU-Ebene bringen!
Parallel zur Verabschiedung dieser Stellungnahme in den kommenden Monaten werden wir den von Deutschland bereits im Rat mit beschlossenen Direktwahlakt von 2018 ratifizieren, um der von der vorherigen Regierung eingegangenen Verpflichtung nachzukommen. Wir laden die Unionsfraktion ein, diesen Weg mit uns zu gehen.
Wichtig hierbei: Die Umsetzung im nationalen Europawahlgesetz, sprich: die Einführung einer Sperrklausel von 2 Prozent, wird frühestens zur übernächsten Europawahl 2029 erfolgen. Bis dahin wollen wir dann auch die grundlegenderen Veränderungen im Sinne des Reformvorschlags von 2022 erreichen.
Manchmal muss man einen für uns Grüne sicherlich nicht einfachen Schritt wie den der Zustimmung zur Sperrklausel gehen, um in der Sache insgesamt weiterzukommen und ein gemeinsames Ziel anzusteuern.
In der Stellungnahme legen wir übrigens auch für den neuen Vorschlag statt der darin vorgesehenen 3,5 Prozent ebenfalls eine Mindesthöhe der Sperrklausel von lediglich 2 Prozent nahe. Dieser Spielraum für eine niedrigere Hürde ist aus unserer Sicht angebracht; denn die Mehrheitsfindung im Europaparlament ist ja nicht mit der dauerhaften Koalitionsbildung, etwa im Deutschen Bundestag, vergleichbar.
Jetzt wurde es naturgemäß doch etwas technisch. Noch mal zusammengefasst: Eine Sperrklausel für die Europawahl wird es in Deutschland frühestens 2029 geben, und wir wollen jetzt auf europäischer Ebene zügig Fortschritte erreichen, damit wir dann auch transnationale Listen wählen können.
Liebe Union, auch hierbei laden wir Sie erneut zur Zusammenarbeit ein. Schließlich hat die EVP-Fraktion im Europaparlament ja dem neuen Reformvorschlag auch zugestimmt. Schließen Sie sich unserer Stellungnahme also sehr gerne an.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Ziel ist, dass sich der Deutsche Bundestag aktiv in die Gestaltung der europäischen Demokratie einbringt. Mit dieser Stellungnahme werden wir diesem Anspruch gerecht. Wir lösen damit unser Versprechen aus dem Koalitionsvertrag ein, und wir geben auch unserer Regierung ein starkes Mandat für die Verhandlungen auf europäischer Ebene. Ich bedanke mich ganz herzlich bei meinen Kolleginnen und Kollegen aus der Ampel für die vertrauensvolle Zusammenarbeit, und ich freue mich auf die weiteren Beratungen in dieser Sache.
Herzlichen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)