Rede zur Europäischen Wahlrechtsreform

26. Mai 2023

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

 

Heute bringen wir uns als Deutscher Bundestag aktiv in die Gestaltung der europäischen Demokratie ein. Heute beschließen wir unsere Stellungnahme zur Reform des europäischen Wahlrechts. Unser Ziel: Die Wahlen zum Europäischen Parlament sollen sichtbarer werden, lebendiger und europäischer.

Das EP vertritt als einzig direkt gewähltes Organ der EU die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar, und es ist neben der Kommission eine der beiden supranationalen Institutionen der EU. Dennoch erfolgt die Wahl zum Europäischen Parlament über die Stimme für eine nationale Liste mit nationalen Kandidat/-innen, die von nationalen Parteien aufgestellt werden. Dadurch sind für die Bürger/-innen im Wahlkampf und in den Medien meist nur die Kandidierenden aus dem eigenen Land präsent, und Wahlkampfdebatten werden aus einer nationalen Logik und Perspektive heraus geführt statt aus einem europäischen Blickwinkel. Das wollen wir ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir sprechen uns für die Verankerung des Spitzenkandidatenprinzips aus und für die Einführung eines zusätzlichen transnationalen Wahlkreises mit 28 Sitzen, der über Listen mit Kandidierenden aus der ganzen EU besetzt wird. Auf deren erstem Platz stünde die Spitzenkandidatin der jeweiligen Parteienfamilie für das Amt der Kommissionspräsidentin. Am besten sollten auch weitere Spitzenpositionen der EU über diese transnationalen Listen legitimiert werden. Das würde den Charakter von Europawahlen nachhaltig und spürbar verändern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Dr. Götz Frömming [AfD]: Das hat beim letzten Mal auch nichts gebracht!)

Denn über gesamteuropäische Parteiprogramme und zugehörige Gesichter können sich die Wähler/-innen in ganz Europa einfach viel besser mit gesamteuropäischen Themen und Inhalten auseinandersetzen und identifizieren.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Die kennen die gar nicht!)

So machen wir die europäische Demokratie erfahrbarer, näher, lebendiger. Genau das wollen auch die Bürgerinnen und Bürger, die sich in der Konferenz zur Zukunft Europas ja ausdrücklich die Einführung transnationaler Listen gewünscht haben.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Ach was! – Norbert Kleinwächter [AfD]: Konferenz zählt nicht!)

Ich freue mich, dass wir hier heute ein starkes Zeichen setzen, um Bewegung in die schwierigen Verhandlungen im Rat zu bringen, die hoffentlich unter spanischer Ratspräsidentschaft vorankommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darüber hinaus ist unsere Stellungnahme auch ein Signal an Parlamentarier/-innen aus allen Mitgliedstaaten, die sich ebenfalls für ein progressiveres europäisches Wahlrecht einsetzen. Die Interessen kritischer Mitgliedstaaten nehmen wir dabei ernst. Wir möchten diese Debatten gemeinsam führen. Wir als Bundestag sollten uns aber nicht vom Wissen um schwierige Mehrheitsverhältnisse im Rat davon abbringen lassen, uns für eine Stärkung der europäischen Demokratie einzusetzen und auch mal Prozesse proaktiv anzuschieben.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Das gibt es nicht!)

Das ist mein Anspruch als Parlamentarierin und als Europapolitikerin.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Götz Frömming [AfD]: Demokratie gibt es nur im Nationalstaat!)

Wir bringen heute auch das Gesetz zur Ratifizierung des Direktwahlakts von 2018 ins Plenum ein. Damit folgen wir der von der Bundesregierung gemachten Zusage, für das Inkrafttreten dieser gemeinsam mit dem EP beschlossenen Reform zu sorgen, mit Wirksamkeit frühestens zur übernächsten Europawahl 2029, wie es im Direktwahlakt vorgesehen ist. Diese Ratifizierung ist als Zwischenschritt auf dem Weg hin zu einem neuen Europawahlrecht zu verstehen. Manchmal muss man so einen pragmatischen Schritt machen, wie die Zustimmung zur Sperrklausel, der für uns Grüne nicht einfach ist; aber so kommen wir in der Sache insgesamt weiter und können längerfristig ein gemeinsames Ziel ansteuern.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Was ist denn das Ziel?)

In der Stellungnahme zum neuen Vorschlag legen wir übrigens analog zum DWA 2018 eine Mindesthöhe mit Augenmaß, also in Höhe von 2 Prozent, nahe. Das EP hat bekanntlich eine andere Rolle als zum Beispiel der Bundestag mit seinen regierungstragenden Mehrheiten. Deswegen ist das völlig ausreichend. Liebe Union, wir haben Sie in diesem Prozess mehrfach zur Zusammenarbeit eingeladen. Im Ausschuss wurde allerdings schon deutlich: Sie versuchen verzweifelt, Ihre Fundamentalopposition gegenüber sinnvollen Initiativen der Ampel

(Lachen des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])

mit inhaltlichen Argumenten zu unterfüttern – leider ziemlich erfolglos.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Dr. Götz Frömming [AfD]: Wie arrogant ist das denn?)

Erstens mit der Behauptung, aufgrund der nationalen Obergrenzen für Mandate könnten keine deutschen Europaabgeordneten über die transnationalen Listen gewählt werden. Das ist schlicht falsch. Ein Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates hat bestätigt, dass die Sitze auf den transnationalen Listen nicht auf die nationalen Sitze angerechnet werden, also – technisch – dass die Vorgabe des Artikels 14 Absatz 2 EU-Vertrag dort nicht greift und somit auch deutsche Abgeordnete über transnationale Listen gewählt werden können. Zweitens fordern Sie die Einführung der Sperrklausel zur Europawahl im nächsten Jahr. Dabei hat doch das Bundesverfassungsgericht ganz klar gesagt, dass eine Sperrklausel in Deutschland bei Europawahlen nur dann zulässig ist, wenn europäisches Recht dies vorschreibt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ja und?)

Der Direktwahlakt 2018, wenn er überhaupt rechtzeitig von Spanien und Zypern ratifiziert werden sollte, verpflichtet uns aber erst zur – Zitat – „Wahl zum Europäischen Parlament, die der ersten Wahl nach dem Inkrafttreten des Beschlusses … folgt“. Also liegen wir als Ampel völlig richtig mit unserem Kurs: keine Sperrhürde bei der kommenden Europawahl.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Christian Petry [SPD])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Bürger/-innen, lassen Sie sich nicht vom durchschaubaren Fokus der Union auf die Sperrhürde ablenken. Es geht uns hier um eine viel weitreichendere Reform des europäischen Wahlrechts. Es geht um ein Europa der Bürger/-innen, die endlich direkter über europäisches Spitzenpersonal entscheiden wollen und sollen. Es geht letztlich darum, die europäische Demokratie zu stärken.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Und Deutschland abzuschaffen!)

Lassen Sie uns auch weitere Schritte dafür gehen, wie die Aufwertung des Europäischen Parlaments und mehr Transparenz im Rat; auch das ist unser Anspruch als selbstbewusste Parlamantarier/-innen.

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz: Kommen Sie bitte zum Schluss.

Und mit dem Wahlrecht ab 16 haben wir die demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten schon für die Wahl im kommenden Jahr entscheidend ausgeweitet. Ob 16 oder 60, machen Sie davon Gebrauch, liebe Bürgerinnen und Bürger. Europa braucht Sie und Ihre Stimme! Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)