Rede zur Rechtsstaatlichkeit in Ungarn

11. November 2022

In meiner Bundestags-Rede zum Tagesordnungspunkt „Maßnahmen zum Schutz des EU-Haushalts vor Rechtsstaatsverstößen in Ungarn“ am 10. November 2022 habe deutlich gemacht, dass die Rechtsstaatlichkeit ein hohes demokratisches Gut ist, zu deren Umsetzung sich alle Mitgliedsstaaten beim Beitritt zur Europäischen Union (EU) verpflichtet haben. Die offensichtlichen Rechtsstaatsverstöße in Ungarn stehen dem diametral entgegen und stellen einen Verstoß gegen die fundamentalen Werte der EU dar. Dass die Europäische Kommission auf den Konditionalitätsmechanismus als Instrument zum Schutz des EU-Haushaltes zurückgreift, ist ein gutes Signal. Nun ist es an Ungarn, transparent und nachhaltig zu begründen, wie es zur Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren gedenkt. Sollten die ergriffenen Maßnahmen keine Wirkung erzielen, muss Deutschland im Europäischen Rat darauf drängen, EU-Gelder in Milliardenhöhe an Ungarn zurückzuhalten. Zu diesem Zweck haben wir im Bundestag eine gemeinsame Stellungnahme veröffentlicht und von unseren Mitwirkungsrechten Gebrauch gemacht.

Die Rede im Wortlaut:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rechtsstaatlichkeit ist ein hohes demokratisches Gut, das wir als Parlamentarier/-innen achten und schützen müssen. Das gilt für Deutschland und für die gesamte EU. Mit dem Beitritt zur Rechts- und Wertegemeinschaft EU haben sich alle Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, die Rechtsstaatlichkeit in ihrer Gesetzgebung zu verankern und umzusetzen, auch Ungarn. Für uns ist klar: Grund- und Menschenrechte, Schutz vor staatlicher Willkür und die Unabhängigkeit der Justiz sind nicht verhandelbar.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

In der Vergangenheit mussten wir oft sehen, wie schwer es der EU fiel, offenkundige Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zu verurteilen und ihnen etwas entgegenzusetzen. Begründet wurde das stets mit der Angst vor der Spaltung Europas. Es wurde gezögert, und die Gelder flossen weiter. Dennoch ist die Spaltung vorangeschritten, ohne dass Orban daran gehindert wurde, den Rechtsstaat immer tiefer auszuhöhlen. Stattdessen hat die Zögerlichkeit ihn darin bestärkt, so weiterzumachen. Das hat System und zeigt wieder einmal: Angst ist kein guter Berater.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie der Abg. Heidi Reichinnek (DIE LINKE) – Zuruf von der AfD: Das sagen gerade Sie!)

Es ist sehr gut, dass sich die EU mit der Konditionalitätsverordnung ein neues Instrument gegeben hat, um Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zu ahnden. Das stärkt ihre Widerstandsfähigkeit und Glaubwürdigkeit. Es ist auch sehr gut, dass die Kommission ihre Verantwortung ernst nimmt und die Konditionalitätsverordnung zum ersten Mal anwendet. Wir als Ampelfraktionen erwarten nun, dass sie diesen Weg mit aller Entschlossenheit weitergeht und sich keinen Sand in die Augen streuen lässt.

Der jahrelange systematische Abbau der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn kann nur schwer von heute auf morgen mit Abhilfemaßnahmen wiederhergestellt werden. In meinen Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern der ungarischen Zivilgesellschaft und der Opposition wurde wiederholt die große Sorge geäußert, dass die Versprechen der ungarischen Regierung in Brüssel und die realen Entwicklungen im Land zwei völlig verschiedene Welten spiegeln, dass etwa die neue Integritätsbehörde nicht mit der nötigen Unabhängigkeit oder Autorität ausgestattet wird. Genau solche Fragen müssen Kommission und Mitgliedstaaten sorgfältig prüfen. Solange Ungarn keine ausreichenden und langfristig wirksamen Maßnahmen ergreift, um zur Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren, darf es auch kein Einlenken geben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Auch wenn wir wissen, dass wir Ungarn für eine geschlossene Antwort auf Russlands Aggression brauchen, dürfen wir uns nicht erpressen lassen; denn das Ringen um die Rechtsstaatlichkeit hat neben der innenpolitischen natürlich auch eine außenpolitische Komponente. Nur wenn die EU ihre Werte nach innen verteidigt und durchsetzt und nur wenn die EU rechtspopulistischen, antiliberalen Bestrebungen in Europa eine rote Linie aufzeigt, nur dann kann sie auch nach außen glaubwürdig auftreten, und nur dann kann sie sich auch den Angriffen von außen in all ihren Formen widersetzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Mit unserer Stellungnahme stärken wir deshalb der Bundesregierung in ihrem Einsatz für die Rechtsstaatlichkeit sowie für eine stabile, handlungsfähige EU den Rücken und machen von unseren Mitwirkungsrechten Gebrauch. Wir fordern ein transparentes, sorgfältiges Verfahren, um sicherzustellen, dass die ungarischen Abhilfemaßnahmen einen effektiven Schutz für den EU-Haushalt entfalten und nicht nur auf dem Papier bestehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Der Durchführungsbeschluss muss im Rat zur Abstimmung gestellt werden. Solange die praktische Umsetzung und die Wirksamkeit der Maßnahmen nicht nachvollziehbar nachgewiesen werden, fordern wir die Bundesregierung auf, im Rat zuzustimmen, sodass die Mittel zurückgehalten werden.

Denn eines muss allen Autokraten dieser Welt klar sein, liebe Kolleginnen und Kollegen: In Europa gilt die Herrschaft des Rechts.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)